Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Vor drei Jahren war Frau B. schon über 90 Jahre alt: Auf einem Ohr hörte sie gar nichts mehr, auf dem anderen trug sie ein Hörgerät. Eine Low Vision-Abklärung ergab einen Visus von 0.20 resp. 0.13. Um überhaupt noch etwas lesen zu können, brauchte Frau B. zweifache Vergrösserung.
Wenige Monate später macht Frau B. den „Uhrentest“: Ein ca. zehn Zentimeter grosser Kreis wird ihr vorgelegt mit der Aufforderung, darin eine Uhr zu zeichen, mit Zeigern und Zahlen. Frau B. fragt ein paar Mal nach, dann beginnt sie, die Ziffern einzutragen. Sie verrutscht bei der Einteilung und korrigiert die Zeichnung. Aber auch die Zeiger kommen nicht richtig aufs Blatt. Testergebnis: Von Sieben möglichen Punkten hat Frau B. nur 1-2 erreicht. Bei Ergebnissen von unter fünf Punkten wird empfohlen, eine Abklärung auf Demenz einzuleiten.
War Frau B. wirklich dement? Zum Zeitpunkt des „Uhrentests“ nicht, bzw. ergab der darauffolgende Mini Mental Score Test nur leichte Indizien auf Demenz und bedeutet für Personen von 90 Jahren normalerweise „Entwarnung“.
Heute lebt Frau B. in einem Altersheim. Es geht ihr – dem Alter entsprechend – gut, sie bekommt viele Ereignisse mit und geht mit Gehhilfe spazieren. Eine Uhr kann sie nach wie vor nicht zeichnen. Ihre Angehörigen kämpfen dafür, dass die pflegenden und betreuenden Fachpersonen Fragen wiederholen und überprüfen, bevor sie eine – gefällige – Antwort einfach akzeptieren.
Seh- und Hörsehbehinderung im Alter sind – wie auch Demenzerkrankungen – ein Problem, das unsere Gesellschaft immer stärker beschäftigen wird. Die Fragestellungen, die sich ergeben, sind vielfältig: im vorliegenden Heft lesen sie, wie es um die Zahl der hörsehbeeinträchtigen Personen in Pflege- und Alterseinrichtungen steht, zu welchen Schwierigkeiten eine mögliche Verwechslung von Demenz und Hörsehbehinderung führen und wie eine sorgfältige Diagnose gelingen kann. Lesen Sie auch die beigelegte Publikation „Beste Pflege dank audio-visueller Abklärung. Leitsätze für Angehörige, Pflegende und Betreuende von Menschen mit Seh- oder Hörsehbehinderung und einer Demenzerkrankung.“
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.
Ann-Katrin Gässlein, Redaktorin