Wer sein Sehproblem versteht, ist für Rehabilitation aufgeschlossener
Wo das Training des exzentrischen Sehens am besten zum Einsatz kommt
Von Sylvie Moroszlay, Ergotherapeutin, spezialisiert in Low Vision
Häufig wird vom Training des exzentrischen Sehens abgesehen: Für dieses Training ist ein persönliches Engagement erforderlich, das über die gewöhnliche Motivation von sehbehinderten Personen hinausgeht. Gemäss unserer Erfahrung wächst aber diese Motivation beträchtlich, wenn die Personen an der Beurteilung der Veränderungen ihrer Sehkraft mitwirken und auf diese Weise verstehen, warum ihr Gehirn die Wirklichkeit anders wahrnimmt.
Oft genügen ein oder zwei Übungen, damit eine Person plötzlich begreift, dass sie sich bisher weder ihres Skotoms noch dessen Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung – in der Fachsprache nennt man dies das „Filling-in“ und „Thin Man-Phänomen“ – und ihre Augenmotorik bewusst war. Einerseits versteht sie: Die entstandenen Schwierigkeiten sind bei weitem gravierender als bei einem gewöhnlichen Sehkraftverlust. Andererseits merkt sie: Brillen und Vergrösserungsmittel können nicht alle Beschwerden beseitigen. Am besten sollte daher ein Training des exzentrischen Sehens zum Einsatz kommen, während dem die betroffene Person direkt erfährt, dass ihr Sehdefizit diverse Aspekte beinhaltet.
Räumliche Wahrnehmung
Werfen wir einen Blick in die Praxis: Verlangt wird, jeweils einen kleinen Querstrich an beiden Enden der drei langen Striche so genau wie möglich zu zeichnen. Herr B. bemerkt seine Ungenauigkeit sofort und ändert sie spontan. Bei jeder Korrektur verbessert sich die Koordination zwischen Auge und Hand. Innerhalb weniger Minuten hat er die Natur seiner Schwierigkeiten begriffen. „Ich habe wirklich Mühe mit der räumlichen Wahrnehmung“ sagt er selbst und versteht, dass sein Problem mit einer neuen Brille allein nicht gelöst ist. Nachdem ihm klar geworden ist, dass Fortschritte möglich sind, erklärt er sich zum Training bereit.
Im nächsten Beispiel beträgt die benötigte Vergrösserung 6.3x. Der Leserhythmus ist unregelmässig. Um herauszufinden, was das Lesen behindert, schlagen wir einige Koordinationsübungen für Auge und Hand vor. Die Aufgabe lautet, einen Punkt in die Mitte der Figur zu setzen.
Auf die Frage, ob die Punkte sich in der Mitte befinden, antwortet Frau L. mit Ja. Als sie erfährt, dass der Punkt auf die rechte Seite des Fünfecks gerückt ist, ruft sie aus: „Aber ich habe eine Raute gesehen!… Ich habe den Punkt in die Mitte der Raute gesetzt!“. Frau L. versteht den Unterschied zwischen empfundenem und objektivem Manko. Es wird ihr bewusst, dass sie ihr Skotom nicht wahrnimmt. Sie versteht jetzt Begriffe wie «Filling-in» oder «Thin Man-Phänomen».
Wenn starke Vergrösserungen nichts bringen
Bei ungefähr 40% der preferred retinal locus (PRLs) – das meint die besondere Netzhautzone, welche die Aufgaben der funktionsuntüchtigen Foveola – den Bereich des schärfsten Sehens der Netzhaut – übernimmt –. treten Skotome nur einseitig auf. Etwa jeder sechste Patient hat eine von Skotomen völlig umgebene preferred retinal locus PRL. Da eine auf mehreren Seiten von Skotomzonen umgebene PRL bei gleicher Sehkraft viel einschränkender ist als eine PRL mit einem Skotom auf einer einzigen Seite, haben wir nach einem einfachen Mittel gesucht, um die verfügbare Spannweite in Bezug auf die Anzahl Buchstaben und auf den Vergrösserungsbedarf zu messen.
Die Ergebnisse des SZBLIND-Tests zum Vergrösserungsbedarf haben den Untersucher oder die Untersucherin dazu angeregt, die Grösse des verwendeten PRL zu messen. Tatsächlich wird der zweifach vergrösserte Text extrem langsam vom einzigen funktionstüchtigen Auge gelesen. Stärkere Vergrösserungen bringen hier keine Verbesserung; der Anfang der Wörter wird weggelassen. Herr W. hat eine ganz eigene Strategie: Er bewegt ständig und regelmässig seinen Kopf in der Leserichtung.
Der Test zeigt eine neunstellige Zahlenreihe. Er stellt logarythmische Vergrösserungen dar, welche jenen der Bedürfnisabklärung entsprechen. Der Patient oder die Patientin werden gebeten, die Zahl 5 in der Reihe 1 bis 9 zu sehen. Aufgabe ist es, die Blickrichtung zu halten und gleichzeitig die Anzahl Ziffern zu registrieren, ohne die Augen zu bewegen. In unserem Beispiel sieht der Patient in der zweifachen Vergrösserung nur drei Ziffern auf einmal. So erklärt sich das – unabhängig von der Vergrösserung – mühsame Lesen und das Weglassen der Wortanfänge.
Die Lesestrategie wird deutlich: Ruckartige Bewegungen, bei denen er sein Ziel aus den Augen verlieren kann, vermeidet er. Er versucht vielmehr, sein Blickfenster zu verlagern, indem er den Kopf bewegt. Doch die Spannweite ist zu klein. Herr W. versteht die Notwendigkeit, eine trained retinal locus TRL zu suchen, das meint eine besondere, nicht spontan gewählte Netzhautzone weiter in der Peripherie mit einem grösseren Gesichtsfeld. Diese Netzhautzone wird trainiert, um die ursprüngliche Foveola zu ersetzen. Dazu kann ein Lesegerät zum Einsatz kommen.
Der vorliegende Artikel erläutert drei Übungen, die dem Handbuch «Entraînement de la vision excentrée» von Sylvie Moroszlay, Markus Sutter, und Christoph Galli (erscheint bald) entnommen sind und im gewöhnlichen Abklärungsprozess der Low Vision zur Anwendung kommen.
Literatur:
Fletcher D (1999). Low vision Rehabilitation, Caring for the Whole Person.American Academy of Ophthalmology
Fletcher D, Schuchard R (1997). Preferred Retinal Loci Relationship to Macular Scotomas in a Low-vision Population.Ophthalmology 104: 632-638