Die Melodie im Kopf: Musik jenseits der Notenschrift
Alle Musik kann aufgeschrieben werden. Die sehbehinderte Louisa Amrouche hat als Kind mit Begeisterung gelernt, die Braille-Notenschrift zu lesen. Jetzt findet sie diese jedoch unpraktisch, weil sie beim Musizieren beide Hände für das Erzeugen der Töne braucht. Ihre Kompositionen übersetzt sie mithilfe von Sehenden in Schwarzschrift.
von Michel Bossart
Louisa Amrouche ist auf beiden Augen geburtsblind und auf dem linken Ohr taub. Mit dem rechten hört sie dafür umso besser und hat das absolute Gehör. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Tonhöhe eines beliebig gehörten Tons ohne Hilfsmittel bestimmen zu können. Das kommt ihr sehr gelegen, denn Amrouche ist leidenschaftliche Musikerin – und Komponistin. Vor einem Jahr hat sie ihr erstes Heft («My black cat») mit zwölf Kompositionen im barocken Stil veröffentlicht. Die Duette, die sie für Sopran- und Tenorblockflöte komponierte, können auch mit Gamben und anderen Melodieinstrumenten gespielt und mit einem Harmonieinstrument begleitet werden.
Die 31-jährige Stadtbernerin, die auch ein Aspergersyndrom hat, lebt von einer IV-Rente, aber weitestgehend selbstständig. Zweimal pro Woche kommt eine Assistenzperson vorbei, und ihre Mutter Anne Marie Weibel ist ihr bei vielen Alltagsbewältigungen ebenfalls eine wertvolle Stütze. Gemeinsam unternehmen sie diverse Freizeitaktivitäten: Sie fahren Tandem, gehen schwimmen oder Schlittschuh laufen oder besuchen gemeinsam ein Konzert. Amrouche liest auch viel («Ich bin eine Braillerin!») oder sitzt am Computer und kommuniziert mit Bekannten.
Multiinstrumentalistin ohne Notenlesen
Dass Amrouche das absolute Gehör hat, bemerkte die Mutter, als die Tochter vier Jahre alt war. Sie erzählt: «Wir waren mit Freunden in den Bergen und völlig eingeschneit. Ich setzte mich ans Klavier und habe den Kindern etwas vorgespielt. Louisa konnte sich die Töne im Gegensatz zu den anderen Kindern problemlos merken.» Amrouche fällt der Mutter ins Wort: «Ein verstimmtes Cembalo oder eine zu tief gestimmte Flöte – das tut mir weh in den Ohren!»
Mit fünf Jahren machte Amrouche zum ersten Mal selbst richtig Musik; mit einer Hohner Melodica, einem Instrument mit einer Klaviatur, das durch Hineinblasen zum Erklingen gebracht wird. Bald schon wechselte sie zum Klavier, später kam die Blockflöte hinzu, viel später die Klarinette («mein Lieblingsinstrument, weil der Ton so schön ist!») und seit zwei Jahren das Akkordeon.
Dass sehbeeinträchtigte Menschen Musik machen, ist an sich keine Seltenheit. Ungewöhnlich ist, dass Amrouche neben Harmonie- (Klavier und Akkordeon) vor allem gerne Melodieinstrumente (Flöten, Klarinette) spielt. Da man für das Spiel auf Blasinstrumenten beide Hände braucht, ist das taktile Notenlesen unmöglich. Weibel erinnert sich: «Die mit Noten erlernten Stücke lassen sich wohl an einer Hand abzählen. Das war mal eine Telemann-Fantasie für eine Soloflöte, zwei Contrapuncti von Bach und Melodien aus der Zauberflöte, letztere waren natürlich vom Hören her bereits bekannt.» Gelernt hat sie so: Sie sang die Melodien notenlesend, die Mutter half ihr dabei und kontrollierte mit Hilfe der Schwarzschrift, ob alle Töne stimmten. Wenn alles richtig war, machte Amrouche eine Aufnahme und spielte die Stücke dann nach. Weibel sagt: «Sobald Louisa einen ‹Text› im Kopf hat, kann sie eine Melodie nachspielen, auch wenn sie kompliziert ist.» Heute bittet sie ihre Lehrerin direkt, die Stimme vorzuspielen, nimmt sie auf und übt sie dann ein, bis sie sie auswendig kann. Ihr CD-Player, der ohne Tonhöhenveränderung das Stück in einem langsameren Tempo wiedergeben kann, ist dabei sehr dienlich und ermöglicht das selbstständige Einstudieren. «Louisa lernt verhältnismässig rasch», sagt ihre Mutter. «Alles, was sie je gelernt hat, ist abgespeichert und kann sofort wieder abgerufen werden.»
Aufschreiben nach Diktat
Natürlich stehen bei einem geburtsblinden Menschen die Töne und nicht die Noten im Vordergrund. Kann man sich zum Beispiel den Improvisationsjazz als Musik ohne Noten sehr gut vorstellen, ist das bei der klassischen Musik schon schwieriger. Und als Komponistin will sie ja ihre Musik auch Sehenden so einfach wie möglich zugänglich machen. Wie geht sie also vor? Weibel beschreibt das so: Louisa habe einen musikalischen Einfall und nehme ihn mit einem ihrer Instrumente auf einen Tonträger auf. Dann mache sie mehrere Versionen davon, bis sie zufrieden sei. Zuletzt lasse sie ihre Kompositionen von ihrem ehemaligen Klavierlehrer und heutigen Korrepetitor aufschreiben. «Zum Teil mache das auch ich. Dank Louisas absolutem Gehör, kann sie mir die Melodien leicht diktieren», sagt Weibel und fügt lachend an: «Das Problem ist eher der Rhythmus. Einmal hat sie einen Taktwechsel eingebaut und ich bin einfach nicht draufgekommen.» Für die Niederschrift benutzen die beiden das (nicht barrierefreie) Programm «Musescore». «Man kann das Aufgeschriebene gleich anhören und wenn etwas nicht stimmt, suchen wir weiter, bis Louisa zufrieden ist.»
Kompositionen im Kopf
Die Niederschrift ihrer kleinen Kompositionen ist eine Art Rücksichtnahme auf die sehenden Musiker, mit denen Amrouche gemeinsam spielt. Optische Lesesysteme und die Braille-Notenschrift spielen in ihrem Musikerinnenleben gar keine Rolle («man müsste die Braille-Notenschrift mit den Zehen lesen können»). Für die sehenden Musiker nimmt sie jeweils die Noten in Schwarzschrift mit – ihre Noten hat sie im Kopf immer dabei. Die erste Auflage von «My black cat» war rasch ausverkauft; das Notenheft wurde aber neu verlegt. Amrouche weiss, dass ihre Duette im Unterricht ihrer Blockflötenlehrerin am Konsi Bern, aber auch an der Musikschule Lausanne und in einer Blockflötengruppe in Grosshöchstetten und Mogelsberg verwendet werden. Die Frage, ob sie gerne Ensemblemusikerin wäre, lässt sie ebenso offen wie ob sie sich eher als Musikerin oder als Komponistin sehe. Sie lässt sich nicht auf etwas limitieren: «Ich nehme das Leben, wie’s kommt», sagt sie bestimmt. Und ebenso bestimmt: «Die Musik – egal in welcher Form – ist mir wichtig.» Sie meint damit, dass sie Musik auch gerne konsumiere. Kürzlich habe sie im Radio eine schöne Bach-Melodie gehört und singt sie gleich vor. Das Interview müsse jetzt dann auch langsam ein Ende finden, fügt sie an, weil sie ihre Mutter nach Luzern an ein Blockflötenkonzert begleite. Eine Frage sei noch gestattet: Wann wird sie die nächste Komposition veröffentlichen? Einfälle und Ideen seien da, sagt die Mutter. Diese müssen nun ausgearbeitet werden. Doch derzeit stecke ihre Tochter viel Kraft und Energie ins Erlernen des Akkordeons. Die sehenden Musiker müssen sich darum wohl noch etwas gedulden.
«My black cat» von Louisa Amrouche ist 2023 bei Basilisk Edition erschienen und kann als Download oder als Notenheft über die Webseite des Verlags bestellt werden.