«Wer ein Leben lang gearbeitet hat, soll im Alter sicher und anständig leben können»
Niemand möchte im Alter in die Armut abrutschen. In der Schweiz gibt es die Möglichkeit, Ergänzungsleistungen zu beantragen. Gerade sehbeeinträchtigte Menschen sollten ihren Ruhestand weit im Voraus planen, wie Alt-Nationalrätin Bea Heim, Co-Präsidentin von VASOS FARES im Interview mit tactuel erklärt.
Interview: Michel Bossart
VASOS FARES wurde 1990 als nationale Dachorganisation von Senioren, Seniorinnen und Selbsthilfeorganisationen gegründet. Sie umfasst 20 nationale, kantonale und regionale Organisationen und zählt rund 130‘000 Mitglieder. Die Dachorganisation versteht sich als Stimme der älteren Menschen und vertritt deren Anliegen im Rahmen öffentlicher und politischer Diskurse und Entscheidungen. VASOS FARES engagiert sich für ein Alter in Würde und in Selbstbestimmung. Leitlinien bilden die Menschenrechte und die soziale Gerechtigkeit; bekämpft werden jegliche Form von Altersdiskriminierung, Altersarmut und andere altersbedingte Ungerechtigkeiten. Die Organisation setzt sich für die politische und gesellschaftliche Partizipation älterer Menschen ein, für den Dialog zwischen den Generationen und für einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Der parteipolitisch unabhängige und konfessionell neutrale Dachverband wird seit 2018 von Alt-Nationalrätin Bea Heim (SP Solothurn) co-präsidiert.
Frau Heim, welches sind die Themen, die Seniorinnen und Senioren in der Schweiz am meisten beschäftigen oder gar bedrücken?
Sichere Renten und finanzielle Sicherheit sind Themen, die unter den Nägeln brennen, oft auch die Befürchtung in die Altersarmut abzurutschen. Das Leben wird immer teurer. Mieten, Energiekosten und Krankenkassenprämien steigen rasant, während die Renten stagnieren.
Frau Heim, wie gross ist das Problem der Altersarmut in der Schweiz?
Armut im Alter ist eine bittere Realität! Jede fünfte Person im Pensionsalter muss mit einem Einkommen von weniger als 2500 Franken im Monat auskommen. Über 300‘000 ältere Menschen in der Schweiz leben in Armut oder sind von Armut bedroht. Die Angst vor Teuerung ist allgegenwärtig. Ganz besonders problematisch ist die Rentensituation vieler Frauen. Die VASOS unterstützt daher die Initiative für eine 13. AHV. Sie hilft, wo es am nötigsten ist, sie stärkt vor allem die tiefen und mittleren Renten. Wer tiefe Renten und zu wenig Geld zum Leben hat, sollte mögliche Ansprüche auf Ergänzungsleistungen abklären lassen. Wer ein Leben lang gearbeitet hat in Beruf und/oder Familie, soll im Alter sicher und anständig leben können.
Was sind denn die häufigsten Gründe, warum jemand im Alter von Armut betroffen ist?
Altersarmut ist nicht erst das Ergebnis der Pensionierung, sondern zeichnet sich schon vorher ab. Menschen, die in Niedriglohnberufen arbeiten, können bestenfalls nur eine kleine 2. Säule ansparen. Von einer dritten Säule kann gar nicht die Rede sein. Auch eine Scheidung kann dazu führen, dass man im Pensionsalter zu wenig hat, besonders bei einst Alleinerziehenden, die nur in Teilzeit arbeiten konnten. Frauen in der Schweiz haben im Schnitt mindestens einen Drittel weniger Rente als Männer. Diese Rentenlücke ist eine Folge der geschlechtsspezifischen Rollenteilung.
Nebst Frauen, ausländischen Staatsangehörigen, Alleinerziehenden, Verwitweten und Geschiedenen sind vor allem Personen ohne zusätzliche Ausbildung von Altersarmut betroffen. Auch sind Menschen auf dem Land davon stärker betroffen als die Stadtbevölkerung. Prekäre Lebenssituationen von Seniorinnen und Senioren kommen unter anderem daher, dass sie keine Ergänzungsleistungen (EL) beantragen. Man geht von einer Dunkelziffer von mehreren Zehntausend Personen aus, die keine EL haben, obwohl sie dazu berechtigt wären.
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit man EL beziehen kann?
Die Bedürftigkeit wird individuell abgeklärt und die Leistungshöhe individuell festgelegt. Nur Personen mit einem Vermögen unter 100‘000 Franken (200‘000 Franken für Paare) haben Anspruch auf entsprechende Leistungen. Zudem müssen die Ausgaben über dem Renteneinkommen liegen. Die anerkannten Ausgaben umfassen einen Pauschalbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf, die Wohnkosten bis zu einem Höchstbetrag und die Prämie der obligatorischen Krankenversicherung.
Sie haben es erwähnt: Trotz der Möglichkeit EL zu beziehen, gibt es viele Seniorinnen und Senioren, die das nicht tun. Woran mag das liegen?
Eine Befragung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Rahmen des nationalen Altersmonitors identifizierte dafür vier Gründe: Nichtwissen, bewusster Verzicht, Wertvorstellung – man möchte dem Staat nicht zur Last fallen – und Scham beziehungsweise Angst. Da hat man ein Leben lang gearbeitet, immer Steuern bezahlt und plötzlich merkt man, dass es im Alter nicht ganz reicht. Das ist eine schwierige Lebensbilanz und darum eher tabubehaftet. Man möchte zudem nicht als EL-Beziehende bekannt werden.
Sind die Ansprüche auf Ergänzungsleistungen national geregelt oder gibt es in jedem Kanton andere Regelungen?
Sie sind grundsätzlich national geregelt. Einzelne Kantone kennen zusätzliche finanzielle Leistungen für Rentnerinnen und Rentner. Sie werden häufig als ausserordentliche EL bezeichnet.
Wie lange dauert es normalerweise, bis ein Antrag auf Ergänzungsleistungen bearbeitet wird und die Leistungen beginnen?
Im Kanton Solothurn ist das Ziel drei Monate, nachdem alle Unterlagen korrekt eingereicht worden sind. Generell gilt, wird der Antrag für EL in den ersten sechs Monaten nach Verfügung der AHV- oder IV-Rente eingereicht, werden die EL rückwirkend ausbezahlt. Bei Anträgen nach dieser sechsmonatigen Frist entsteht der EL-Anspruch jeweils ab dem Monat, in dem der Antrag eingereicht wurde.
Gibt es bestimmte Situationen, in denen Personen trotz Erfüllung der Grundvoraussetzungen keine EL erhalten könnten?
Je nach Höhe des Vermögens, ja. Hürden gibt es auch, wenn man sein Vermögen in der Hoffnung, EL zu bekommen, verprasst oder Hab und Gut verschenkt hat. Bereits zehn Jahre vor Beginn des Anspruchs auf die Altersrente kann man nicht mehr frei über sein Vermögen verfügen, ohne die Kürzung oder Streichung einer EL zu riskieren.
Gibt es spezielle Ergänzungsleistungen für Menschen mit einer Sehbehinderung?
Ja, aber es ist vertrackt. Die EL vergüten nur krankheits- oder behinderungsbedingte Kosten, die von keiner Versicherung übernommen werden. Die Vergütung muss beantragt und die Kosten müssen belegt werden. Für die Vergütung gelten Höchstbeträge und es wird unterschieden, ob eine Person zu Hause oder in einem Heim lebt. Von den im Rahmen der IV finanzierten Hilfsmitteln wie ein weisser Stock, ein Führ-Hund, Abspielgeräte für Tonträger, Bildschirmlesegeräte, Lampen, Lupenbrillen und so weiter bleiben für Menschen, die erst im AHV-Alter eine Sehbehinderung geltend machen, nur gerade zwei Posten übrig: Lupenbrillen und Bildschirmlesegeräte. Wichtig ist daher, wer vor AHV-Rentenantritt an einer Sehbehinderung leidet, sollte vor Erreichen des Rentenalters IV-Leistungen beantragen. Denn was jemand vor dem AHV-Alter als IV-Leistung erhält, steht ihm auch im AHV-Alter zu. Es gilt Besitzstandwahrung, auch bei den Hilfsmitteln.
Können Sie ein Beispiel machen?
Wird beispielsweise ein Bildschirmlesegerät im IV-Alter bewilligt, zahlt die IV das Gerät komplett oder stellt es als Leihgabe zur Verfügung. Wird das Gerät erst im AHV-Alter beantragt, bezahlt diese einen Zuschuss. Darüber hinaus erstattet die AHV drei Viertel der Rechnungen für Hilfsmittel und die EL decken den bei der AHV verbleibenden restlichen Viertelbetrag ab. Behinderungsbedingte Kosten können also zusätzlich zur EL eingereicht werden. Die Quote ist jedoch limitiert. Hier wäre es sinnvoll Hilflosenentschädigung zu beantragen und, wenn man im AHV-Alter ist, ein Gesuch für individuelle Finanzhilfen bei Pro Senectute einzureichen. Die Politik hat realisiert, dass Personen im AHV-Alter bezüglich Hilfsmittel schlechter gestellt sind als in der IV und kritisiert, dass nicht einmal der Weisse Stock im Leistungskatalog der AHV vorgesehen ist. In einer Motion verlangt das Parlament die Finanzierung von Hilfsmitteln zu verbessern, um die Mobilität und Selbständigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen im Rentenalter zu unterstützen. Dabei ist die Rede zum Beispiel vom Weissen Stock, von Abspielgeräten und von Lese- und Schreibsystemen und so weiter. Gerade in dieser Herbstsession hat das Parlament den Vorstoss angenommen, damit Menschen mit Behinderungen möglichst lange zuhause und selbstbestimmt leben können. Es besteht also Hoffnung, dass in Zukunft mehr Hilfsmittel von der AHV finanziert werden.
Zum Schluss: Welche Ratschläge und Tipps haben Sie für ältere Menschen, die über die Beantragung von EL nachdenken?
Wenn die Altersrente nicht zum Leben reicht, sollte man sich vertrauensvoll bei der kantonalen Pro Senectute melden. Man erhält dort kostenlos eine professionelle Abklärung des EL-Anspruchs. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Ergänzungsleistungen keine Almosen sind, sondern ein Anrecht, wenn die Renten nicht zum Leben reichen.