Interview mit Thomas Katlun

Dr. Thomas Katlun sitzt vor einem Apparat zur Untersuchung der Augen.
Dr. Thomas Katlun ist Spezialist für Sportaugenheilkunde. / Bild: zVg

Von Michel Bossart

Als Augenarzt und Sportmediziner ist Thomas Katlun aus Heidelberg Mitglied im deutschen Berufsverband der Augenärzte, wo er das Ressort Sportaugenheilkunde leitet. Katlun ist auch Mitglied im Sportärztebund und im badischen Behindertensportbund. Mit tactuel sprach er über die Chancen und Herausforderungen von sehbeeinträchtigten Sportlern: Was müssen Lehrpersonen, Eltern und Sporttreibende beachten? Gibt es Sportarten, die sich besonders gut oder ganz und gar nicht für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung eigenen?

Herr Katlun, gibt es aus ophthalmologischer Sicht je nach Grad oder Art der Sehbeeinträchtigung verschiedene Empfehlungen für den Sportunterricht von Kindern und Jugendlichen?
Nein, das gibt es nicht. Das oberste Prinzip lautet, dass die Jugendlichen vor dem geschützt werden müssen, was sie nicht sehen. Das ist für jeden ein bisschen anders. Auch Sportler mit wenig Sehleistung können praktisch alle Sportarten betreiben; nötigenfalls mit einem Guide.

2017 wurden neue sportophthalmologische Richtlinien ausgearbeitet. Was ist im Vergleich zu früher anders und warum war diese Überarbeitung notwendig?
Früher basierten die Richtlinien auf Verboten und sie waren vor allem für die Lehrkräfte kompliziert in der Umsetzung. In der Praxis wurden viel mehr Sportarten ausgeübt, als gemäss den Richtlinien eigentlich erlaubt gewesen wären. Diesen Widerspruch sollte die Überarbeitung ausmerzen. So sind die heutigen Richtlinien nicht mehr von Verboten, sondern einem offenen Umgang mit der Thematik geprägt.

Wie steht es um die praktische Umsetzung dieser neuen Richtlinien? Wissen Augenärztinnen und Ärzte, Eltern und Pädagog/-innen davon?
Das ist tatsächlich gar nicht so einfach, wie es scheinen könnte und braucht länger als gedacht. Aber so langsam setzen sie sich durch.

Viele Eltern sind verunsichert, ob sie ihr sehbeeinträchtigtes Kind Sport treiben lassen sollen. Was ist Ihr Ratschlag?
Eltern sollten das Gespräch mit der Sportlehrperson suchen und das Kind an den Sport heranführen. Das Prinzip heisst auch hier «fördern und fordern». Kinder schaffen nämlich mehr, als manche Eltern ihnen zumuten. Ein Tipp ist auch: Schauen Sie mal die Paralympics und staunen Sie wie gut sehbeeinträchtigte Sportlerinnen und Sportler Ski fahren oder Fussball spielen können.

Und die Lehrkräfte: Auf was müssen sie im Sportunterricht, an dem auch sehbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche teilnehmen, besonders achten?
Eigentlich auf nichts Besonderes. Klar, nach einer Operation braucht es zum Beispiel im Schwimmbad einen Infektionsschutz und je nach Sportart eine Schutzbrille. Wichtig ist aber, dass man die sehbeeinträchtigen Kinder und Jugendlichen abholt und ihnen Sicherheit gibt. Sport ist inklusiv: Nur wenn wir ihnen eine Entwicklungsmöglichkeit geben, können wir sie inkludieren.

Sind denn zum Beispiel Ballspiele für Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung geeignet?
Mit entsprechender Schutzbrille sind Ballspiele kein Problem. Die Pädagogen sind ja gut ausgebildet und leiten die Kinder je nach Begabung und Leistungsfähigkeit an.

Sollten Menschen mit Sehbeeinträchtigung erst den Augenarzt konsultieren, bevor sie mit einer (neuen) Sportart beginnen?
Nein, das ist nur bei mehrfach operierten Augen oder für Situationen, wo sehr regelmässige Kontrollen mehrmals im Jahr (Glaukom) durchgeführt werden, angezeigt. Es reicht, wenn man sich mit der Sportlehrperson abspricht.

In welchen Fällen können Sport- und Bewegungsangebote gefährlich sein für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung?
Erstens, wenn die Behinderung die Sicherheit beeinflusst. Zum Beispiel wenn man beim Klettern nicht sieht, wohin man greifen muss oder beim Segeln das Ufer nicht mehr erkennen kann. Die Orientierungslosigkeit ist die grösste Gefahr. Zweitens: Menschen mit einer neurodegenerativen Erkrankung sollten sich nicht auf über 5000 Meter über Meer begeben, da es zu Blutungen an der Netzhaut kommen kann. Ein Tandemsprung aus dem Flugzeug ist aber überhaupt kein Problem (lacht).

Gibt es weitere augenärztliche Ratschläge, die bei sportlicher Aktivität von Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit beachtet werden sollten?
Bitte so viel Sport wie möglich treiben! Geben Sie dabei acht und schützen Sie Ihre Augen mit einer Brille.

Apropos Brille: Was sollte bei der Brillenverordnung im Sportbereich berücksichtigt werden?
Die Fehlsichtigkeit sollte so gut wie möglich korrigiert werden. Das Tragen einer Sportschutzbrille ist ebenfalls empfehlenswert, damit es zu keiner zusätzliche Verletzungsgefahr fürs Auge kommt.

Gibt es eigentlich auch Sportarten, in denen sich sehbeeinträchtigte mit normalsehenden Athletinnen und Athleten messen?
Im Training schon, im Wettkampf eher nicht, weil einfach die Chancengleichheit nicht gegeben ist. Das macht eine gemeinsame Wertung schwierig.

Gemäss der Bundesregierung machten 55 Prozent der Deutschen mit einer Behinderung überhaupt keinen Sport. Ist diese Zahl aus dem Jahr 2017 bei Menschen mit Sehbeeinträchtigung ebenfalls so hoch?
Es ist sehr schwierig, solche Erhebung zu machen. Aus Marburg ist mir aber eine Studie bekannt, die belegt, dass sich sehbeeinträchtigte Kinder im Sportunterricht mehr bewegten als Schülerinnen und Schüler der Regelschule. Im Gegenzug bewegten sich die Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung ausserhalb der Schule weniger. Dabei ist Bewegung so wichtig. Ich bin überzeugt: Wenn die Kinder verschiedene Sportarten ausprobieren, trauen sie sich auch nach der Schulzeit, Sport zu treiben und bleiben in Bewegung.

Nicht jeder will gleich Profisportlerin oder Sportler werden und an Wettkämpfen teilnehmen. Die meisten möchten wohl in erster Linie etwas für die körperliche Fitness tun. Welche Sportarten sind dafür besonders gut geeignet und was gilt es zu beachten?
Es geht in erster Linie um die Bewegung. Spazierengehen ist schon mal ein guter Anfang. Dann – und das gilt auch für die normal Sehenden – kann man ja mal die Treppe anstatt den Fahrstuhl nehmen. Bestimmt gibt es für Menschen mit Sehbeeinträchtigung auch die Möglichkeit, ein Fitnessstudio oder Yoga-Klassen zu besuchen.

Gibt es weitere Punkte, auf die man achten sollte?
Am wichtigsten ist wohl, dass es auf dem Sportplatz oder in der Halle keine Stolperfallen gibt. Zudem ist es ratsam, möglichst kontrastreiche Trikots zu tragen, damit die Sehschärfe der Betroffenen noch voll ausgenutzt werden kann.


Als Sportlerin oder Sportler mit einer Beeinträchtigung der Sehfähigkeit gelten Athletinnen und Athleten mit ganz oder teilweise eingeschränkter Sehfähigkeit also Folge von Verletzungen der Augenstruktur, des Sehnervs, der Sehbahnen oder der visuellen Hirnrinde (Cortex). Beispielhaft sind Retinitis Pigmentosa und diabetische Retinopathie. Sie werden in drei Kategorien von B1 (vollblind) bis B3 (sehbehindert) eingeteilt. In vielen paralympischen Sportarten gibt es auch Startklassen für blinde- und sehbeeinträchtigte Athletinnen und Athleten. Zum Beispiel: Dressursport, Judo, Leichtathletik, Radsport, Rudern, Schwimmen, Triathlon, Ski alpin und Ski nordisch. Nicht paralympisch sind: Kegeln, Reiten, Segeln, Torball und Sportschiessen.