Ein Hallo reicht nicht
Im Austausch mit sehbeeinträchtigten Menschen fühlen sich viele Menschen unsicher. Fehlende Rücksichtnahme oder übertriebene Hilfestellung können Menschen mit Sehbeeinträchtigung viele Nerven kosten. Auf welche Dinge Menschen ohne Sehbeeinträchtigung achten sollten, erklärt Youtuberin Ypsilon in ihren Videos.
von Michel Bossart
Die Gesamtheit von Fertigkeiten, die für die Gestaltung sozialer Interaktionen nützlich oder notwendig sein können, nennt man in der Psychologie «soziale Kompetenz». Obschon das Konzept sozialer Kompetenz vielfach positiv gesehen wird, ist der Begriff im moralischen Sinne wertneutral. Soziale Kompetenzen sind immer da vorhanden, wo Individuen in welcher Art und Weise auch immer miteinander einen Umgang pflegen: in der Familie, im Verein, in der Schule oder Partei genauso wie bei mafiösen Organisationen oder in einer kriminellen Gang. Unsere sozialen Kompetenzen ermöglicht es den Menschen überhaupt erst, untereinander zu kommunizieren und interagieren.
Im Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen passieren Sehenden oft Fauxpas. Meistens geschieht das unbewusst und unabsichtlich – Und trotzdem: Es zeigt, dass viele Menschen ohne Behinderung ihre sozialen Kompetenzen noch erweitern müssen.
Wertschätzung entgegenbringen
Der Deutsche Knigge-Rat hat Tipps für den respektvollen Umgang mit Menschen mit Behinderungen formuliert. So soll der Small Talk zum Beispiel nicht von plumper Neugier über die Behinderung getrieben sein. Die blinde Fabiana aus Köln, die unter dem Künstlernamen Ypsilon Videos auf Youtube veröffentlicht, in denen es (auch) darum geht, was Blinde an Sehenden nervt, stimmt dem zu und erklärt das in einem Beitrag so: Oft stehe bei einer Begegnung nicht der Mensch, sondern die Behinderung im Vordergrund. «Ich hab das auch schon erlebt: Mich hat jemand fünf Minuten zu meiner Blindheit befragt, und als die Antworten da waren, ist die Person einfach gegangen.»
Weiteres Beispiel: Wenn Blinde und sehbehinderte Menschen selbstständig unterwegs sind, sind sie nicht unbedingt auf Hilfe angewiesen. Trotzdem wird es in der Regel geschätzt, wenn man ihnen Unterstützung anbietet. Ypsilon mahnt: «Lasst uns entscheiden, was wir können und was wir nicht können. Wir kennen unsere eigenen Grenzen am allerbesten.» Wer sich unsicher fühle, ob man unterstützen oder helfen soll, der soll das ansprechen und die blinde Person bitten, sich entsprechend zu äussern, wenn sie Hilfe braucht. Viele Menschen würden nämlich vor lauter Hilfsbereitschaft beinahe handgreiflich werden, heisst es im Knigge-Ratgeber, doch so einen Übergriff mag niemand gern. Es gelte einfach zu akzeptieren, wenn jemand die Hilfe nicht in Anspruch nehmen wolle.
Grundsätzlich empfiehlt Ypsilon, Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung so anzusprechen: «Hallo, kommen Sie zurecht?». Das sei wertschätzend, weil man der sehbehinderten Person zutraue, dass sie zurechtkomme, ihr aber trotzdem Hilfe anbiete. «Das ist für beide Seiten eine Win-Win-Situation», resümiert Ypsilon, denn weder ein Ja noch ein Nein stosse die eine oder andere Person vor den Kopf.
So grüsst man richtig
Ypsilon sei es schon oft passiert, dass man über sie hinweg oder über sie mit der Begleitperson gesprochen habe. «Ist sie blind?», «Was will sie trinken?» oder ähnliche Fragen können und sollen der betroffenen Person direkt gestellt wer¬den. Menschen mit einer Sehbehinderung sind in der Regel nicht taub, können sprechen und wollen nicht übergangen werden.
Oder: Damit sich Personen mit einer Sehbehinderung gefahrlos fortbewegen können, sind sie darauf angewiesen, dass die Gehwege so hindernisfrei wie möglich sind. Wer mit dem weissen Langstock unterwegs ist, orientiert sich – wo vorhanden – an Leitlinien oder zum Beispiel entlang von Kanten und Hauswänden. Ypsilon sagt dazu: «Wenn ein Fahrrad an einer Hauswand parkiert ist, bemerke ich es oft erst, wenn ich schon da-gegen gelaufen bin.» Sie wäre froh, wenn Sehen-de sich dieser Gefahren bewusstwerden und zum Beispiel am Bahnhof keine Koffer auf die Leitli-nien abstellen oder keine Gegenstände an für Sehbehinderte wichtige Leitkanten parkieren. Ein weiterer Punkt ist die Kommunikation: Kom-munizieren Sie besser zu viel als zu wenig, rät der Knigge. Ypsilon ist einverstanden. Ein einfaches Hallo reiche häufig nicht. Denn die blinde Person kann in so kurzer Zeit oft nicht erkennen, wer da grüsst oder wo genau die grüssende Person steht. Hilfreich sind ganze Sätze wie: «Hallo, ich bin’s, Marco. Ich gebe dir jetzt die Hand.» Die angesprochene Person weiss nun nicht nur, wer sie anspricht, sondern auch, dass man sich mit der Hand – und nicht etwa mit einer Umarmung oder drei Küsschen – begrüsst. Überhaupt müssen sich Sehende angewöhnen, mehr als sonst zu sprechen und auch das eigene Tun zu verbalisieren. Beschreibende Sätze wie: «Jetzt kommt Frau Meier zur Tür herein» oder «ich verlasse kurz den Platz und hole etwas aus der Küche» geben der sehbehinderten Person Orientierung und verhindern obendrein die unangenehme Situation, dass blinde Menschen sich mit einem leeren Stuhl unterhalten.
Keine Angst vor Redewendungen
Die Videobloggerin aus Köln rät, sich bei Unsicherheiten im Umgang mit sehbehinderten Menschen zu informieren. In der Tat finden sich im Internet ohne grosse Umstände verschiedene Ratgeber und Tipps. Noch einfacher sei es, eine sehbehinderte Person direkt zu fragen.
Allzu grosse Angst vor dem Gebrauch alltäglicher Redewendung wie beispielsweise «Auf Wiedersehen» oder «das ist Ansichtssache» braucht man übrigens nicht zu haben, da sind sich die Ratgeber weitgehend einig. Menschen mit einer Sehbehinderung stören sich in der Regel nicht an solchen Aussagen.