Heilpädagogische Früherziehung im «Low Vision Zentrum» Kanton Zürich
Das Low Vision Zentrum (Kanton Zürich) berichtet aus dem Arbeitsalltag über die Unterstützung sehbehinderter Kinder im Vorschulalter und plädiert für eine differenziertere Erforschung und Darstellung dieses heilpädagogischen Bereiches.
Von Kathrin Lehninger und Monique Gmelig Meyling, Low Vision Zentrum
Das Gegenteil von «gut» ist «gut gemeint», wie es manchmal heißt. Wir wollen an dieser Stelle zuletzt erfolgte Berichte zur Versorgungslage sehbehinderter Kinder im Vorschulalter im Kanton Zürich aus unserer Sicht ergänzen, dabei auf die Komplexität dieses Arbeitsfeldes eingehen und dazu anregen, Gesetzesänderungen, die zu Ungunsten von Kindern und Familien erfolgt sein könnten, noch einmal zu reflektieren.
Low Vision im Kanton Zürich – was hinter den Begriffen steht?
Wenn es um frühe sehbehindertenspezifische Interventionen im Kanton Zürich geht, dann ist damit die Heilpädagogische Früherziehung Low Vision gemeint. Sie zählt im Kanton Zürich zu den sonderpädagogischen Massnahmen für Kinder mit einer Sehbehinderung, Blindheit oder Mehrfachbehinderung vom Säuglingsalter bis zur Einschulung. In anderen Kantonen werden für diese Leistung andere Bezeichnungen benutzt.
Das Low Vision Zentrum besteht seit 2004 und ist ein Zusammenschluss von Heilpädagogischen Früherzieherinnen, die sich zusätzlich in Sehbehindertenpädagogik spezialisiert haben.
«Heilpädagogische Früherziehung Low Vision» mit dem Begriff «Low Vision Therapie» zu ersetzen, ist in Fachkreisen nicht üblich oder zumindest umstritten. Die Bezeichnung suggeriert, dass die Massnahme sich ausschliesslich auf das verminderte Sehen (Low Vision) ausrichtet und könnte daher mit einer funktionalen Therapie verwechselt oder gleichgesetzt werden.
Heilpädagogische Früherziehung – eine Nische am Markt heilpädagogischer Angebote
Kinder mit Sehbehinderung stellen im Vergleich zur Gesamtzahl der Kinder, die einen sonderpädagogischen Bedarf aufweisen, nur eine kleine Gruppe dar. Daher sind fundierte, spezifische Kenntnisse des Arbeitsfeldes und pädagogische Erfahrungen über einen längeren Zeitraum für die fachliche Qualifikation und das Ausmass der möglichen Unterstützung, die von der jeweiligen Fachperson geleistet werden kann, äußerst bedeutsam.
Das Low Vision Zentrum hat sich über die Jahre zu einem Kompetenzzentrum entwickelt. Seit der Gründung haben wir mit rund 1000 Kindern, die einen Bedarf für heilpädagogische Früherziehung aufgrund einer Sehbehinderung aufwiesen, und deren Familien gearbeitet.
Die Heilpädagogischer Früherziehung, bietet neben einer gezielten ganzheitlichen Förderung des Kindes mit einer Sehbeeinträchtigung in allen Entwicklungsbereichen auch eine systemische Beratung und Unterstützung der Eltern und anderer Bezugspersonen. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ist die intensive Zusammenarbeit mit allen involvierten Fachpersonen, um gemeinsam das individuelle Förderkonzept umzusetzen.
Die heilpädagogische Früherziehung Low Vision findet in der Regel im familiären Kontext statt und bewegt sich somit in einem sehr komplexen individualisierten System. Das Angebot ist auf die Ressourcen und Bedürfnisse der Familie ausgerichtet und passt sich der jeweiligen Situation und dem direkten Umfeld des Kindes an. Die Komplexität des Systems, in dem die heilpädagogische Früherziehung Low Vision wirkt, fordert daher von der Heilpädagogin ein breites Hintergrundwissen, fachliche Qualifikationen, ein hohes Mass an Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Empathie, Verständnis und Respekt vor Entscheidungen und Prioritäten der Familien.
Richtige Quellen – falsche Schlüsse
Wenn die Frage nach frühen sehbehindertenspezifischen Interventionen im Kanton Zürich gestellt wird, dann wäre eigentlich zu erwarten, dass Forscher sich vorab praktisch und theoretisch im Feld kundig machen. Gerne sind wir bereit, diesen ersten Schritt zu unterstützen und in das Forschungsfeld zumindest theoretisch und strukturell einzuführen.
Autoren zum Thema «frühe sehbehinderten-pädagogische Intervention» bedienen sich zur Beurteilung der Versorgungslage vor allem des Registers, d.h. Daten der Fachstelle, welche die Bewilligung einer Massnahme erteilt. Dabei lassen sie unter Umständen offenbar ausseracht, dass diese Daten zu 75% aus Erst- und Verlängerungsanträgen, die von uns im Low Vision Zentrum gestellt wurden, bestehen. Daher sind eigentlich auch nur wir, die Leistungserbringer, in der Lage, die Begründungen für die Abweichungen der zugesprochenen Stundenkontingente (die in Summe nur zu 53% ausgeschöpft wurden) zu rekonstruieren.
Der Kanton Zürich genehmigt und finanziert nach Abklärung des Bedarfs ein Stundenkontingent für sonderpädagogische Massnahmen pro Jahr. Der Bedarf wird anhand des Schweregrades der Einschränkungen und der belastenden Umweltfaktoren festgelegt. Bei der Beurteilung der Erhebung zur Versorgungslage der Kinder im Vorschulalter im Kanton Zürich wird davon ausgegangen, dass ein vollkommen aufgebrauchtes Stundenkontingent für eine effektive und wirkende Massnahme steht. Umkehrschluss: Ungenützte Stundenkontingente erlauben eine Reduktion der Massnahmen. Diese Einschätzung und Form der Beurteilung wäre mit Sicherheit nicht richtig und könnte sich auf unsere Arbeit negativ auswirken.
Um effektiv arbeiten zu können, richtet sich die Festlegung der Termine im «Low Vision Zentrum» nach den aktuellen Bedürfnissen und effektiven Ressourcen der Familie. Dies halten wir für besonders wichtig im Sinne einer qualitätsvollen, individuellen Leistung für das jeweilige Kind und seine Familie.
Künftige Forschung: Mehr Praxis, weniger Statistik, mehr Bezug zur Komplexität
Es reicht unseres Erachtens nicht aus, auf der Ebene von erhobenen Daten Hypothesen aufzustellen, die offenbar einem kausalen, linearen Kosten-Nutzen-Schema entsprechen sollen. Dieses Schema gipfelt regelmäßig in einer Suche nach Abweichungen zwischen Bedarf und Nutzung zu finanzierender Massnahmen.
Wir bedauern, wenn sich Autoren kein vollständiges Bild von der Komplexität des Arbeitsfeldes machen und suchen daher aktiv den Dialog und wünschen uns für die Zukunft eine Forschungsarbeit, die bereit ist, sich der ganzen Komplexität der heilpädagogischen Früherziehung «Low Vision» zu stellen und so die fachliche Diskussion zu bereichern und die Entwicklung unserer Arbeit positiv mitzubestimmen.
Wir wundern uns, wenn im Abschluss eines Berichts zur Versorgungslage «früher sehbehindertenspezifischer Interventionen» die offenen Fragen, welche den heilpädagogischen Bereich der Früherziehung betreffen, mit Ergebnissen der jüngst gemachten REVISA Studie (Revisa1) beantwortet werden, welche sich mit Interventionen im Schulbereich beschäftigt.
Wir würden es daher begrüssen, wenn die Forschung künftig wichtige Themen direkt aus der Praxis aufnimmt. Dabei denken wir vor allem an die Auswirkungen einer Reduzierung der Stundenkontingente für Elternberatung und auf die pädagogische Förderung der Kinder im häuslichen Umfeld. Ebenso zu hinterfragen sind die möglichen Folgen für alle Betroffenen, wenn die Heilpädagogische Früherziehung nach Eintritt in den Kindergarten nun auf die ersten 4 Lebensjahre beschränkt bleibt.
Gezielt der Frage nachzugehen, wie sich die jüngsten gesetzlichen Einschnitte im Kanton Zürich auf den Bildungsweg der Kinder mit Sehbehinderung / Blindheit und Seh- Mehrfachbehinderung auswirken könnten, würde das Arbeitsfeld an einer wichtigen Stelle beleuchten und die Möglichkeit bieten, die gegenwärtige Situation objektiv zu reflektieren und Missstände in bildungspolitischen Diskussionen aufzuzeigen.
Autorinnen im Namen des Low Vision Zentrums:
Karin Lehninger, Erziehungswissenschaftlerin, Heilpädagogische Früherzieherin, Low Vision Trainerin
Monique Gmelig Meyling, Klinische Heilpädagogin, Heilpädagogische Früherzieherin, Low Vision Trainerin