Im Einsatz für ein konsequentes „Design for all“
25 Jahre Fachkommission sehbehinderten gerechtes Bauen
Die Fachkommission sehbehinderten gerechtes Bauen der Fachstelle für Hindernisfreie Architektur gibt es seit 25 Jahren. Welche Kämpfe ausgefochten wurden, was sich in diesem Bereich getan hat und welche Herausforderungen zu bewältigen sind, berichtet Eva Schmidt, die Leiterin der Fachstelle im Interview.
Interview von Nina Hug mit Eva Schmidt, Leiterin der Fachstelle Hindernisfreie Architektur
tactuel: Wenn wir über Hindernisfreiheit reden, welche Bereiche des Bauens (baulichen Massnahmen) sind für Menschen mit Sehbehinderung relevant?
Eva Schmidt: Als ich 1995 mit meiner Arbeit an der Schweizer Fachstelle begonnen habe, war mein erstes Projekt die Entwicklung eines taktil-visuellen Leitliniensystems für die Schweiz. Fast zeitgleich dazu definierten wir die Anforderungen an taktile und akustische Signale an Ampelanlagen und arbeiteten die Anforderungen an die Gestaltung von Strassen, Wegen und Plätzen auf. Dies war absolut kein Zufall. Denn, während sich jede*r mit einer Sehbehinderung die eignen vier Wände selber gestalten und einrichten kann, muss der öffentliche Raum so gebaut werden, dass auch Menschen mit einer Sehbehinderung sich orientieren und sicher zwischen anderen Verkehrsteilnehmenden bewegen können. Alle Hindernisse, die im Weg stehen sind, potentielle Gefahren und haben Einfluss auf die Orientierung, ob im öffentlichen Raum oder in Gebäuden. Eine gute Orientierung ist von geeigneten Beschriftungen, einer einfach verständlichen Konzeption der Räume, gut auffindbaren und benutzbaren Liften und Treppenhäusern, einer guten Beleuchtung und vielem mehr abhängig.
tactuel: Der Fachbereich sehbehindertengerechtes Bauen der Schweizer Fachstelle besteht seit 25 Jahren. Wie kam es zur Gründung?
Die Schweizer Fachstelle besteht seit 1981 und feiert dieses Jahr ihr 40-jähriges Jubiläum. Sie hat von Anfang an Grundlagen für jede Art von Behinderung erarbeitet. Dies erkennt man beispielsweise daran, dass schon in der Norm von 1988 praktisch alle wichtigen Grundsätze für eine sehbehindertengerechte Bauweise aufgeführt waren. In den 1980er Jahren fokussierte die Fachstelle jedoch auf die Entwicklung des Konzepts für den anpassbaren Wohnungsbau und die Nutzung von Gebäuden mit einem Rollstuhl.
Dies erklärt, warum die Sehbehindertenorganisationen 1995 den Anstoss gaben, gemeinsam einen spezialisierten Fachbereich für sehbehinderten- und blindengerechtes Bauen zu gründen. Die spezialisierte Fachstelle wird von einer kompetenten Fachkommission, zusammengesetzt aus Betroffenen und Spezialisten aus dem Sehbehindertenwesen inhaltlich begleitet und legitimiert. Bis heute ein Erfolgsmodell, das meiner Tätigkeit bei der Fachstelle grossen Rückhalt gegeben, und mich als Architektin (in den 25 Jahren) bei den grossen und vielfältigen Aufgaben enorm unterstützt hat.
tactuel: Inwiefern hat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) das hindernisfreie Bauen – in diesem Bereich – befördert?
Das BehiG hat in erster Linie eine Grundlage dafür geschaffen, dass das hindernisfreie Bauen seit 2004 bei durchweg allen Bauvorhaben eingefordert werden kann. Es hat aber auch die Entwicklung von weiteren Grundlagen befeuert. Zuerst wurde die Schweizer Norm von 1988 durch den SIA überarbeitet und 2009 unter dem Titel SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» publiziert. Gegenüber der Vorgängernorm präzisiert sie viele Anforderungen von Menschen mit Sehbehinderung, so z.B. die Orientierung anhand von baulichen Elementen, die Beschriftungen oder auch die Anforderungen an visuelle Kontraste. 2014 folgte die Publikation der VSS-Norm «Hindernisfreier Verkehrsraum». Die Grundlagen für beide Normen hat unsere Fachstelle zusammen mit der Fachkommission erarbeitet und in den Normkommissionen eingebracht.
tactuel: In der barrierefreien Gestaltung des öffentlichen Verkehrs scheinen die Bahnhöfe besonders umkämpft gewesen zu sein. – Warum?
Bahnhöfe sind komplexe Anlagen, Umsteigen muss schnell gehen, und die wichtigsten Wegverbindungen im Bahnhof sind für alle Nutzer dieselben. An einem solchen Ort besteht für Menschen mit einer Sehbehinderung ein hoher Bedarf nach Führung mittels taktil-visuellen Markierungen. Der Test zur Entwicklung des Leitliniensystems für die Schweiz wurde dann auch am Hauptbahnhof Zürich durchgeführt. Als einer der grössten Bahnhöfe der Schweiz war der Hauptbahnhof geradezu prädestiniert. Auf den Perrons hingegen bestimmen die Bundesverordnungen welche Markierungen zulässig sind. Taktil-visuelle Sicherheitslinien dürfen erst seit 2006 angebracht werden. Da die Führung von Menschen mit Sehbehinderung auf dem Perron besonders sicherheitsrelevant ist, musste sich die Schweizer Fachstelle 2016 schliesslich noch mit einer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht dafür einsetzen, dass die Aufmerksamkeitsfelder zwischen den Treppenabgängen und der Sicherheitslinie durchgehend markiert werden durften. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hat die Notwendigkeit erkannt und inzwischen mit Unterstützung der Fachkommission und der Fachstelle einen Leitfaden entwickelt, der die lückenlose Führung auf Perrons sogar vorschreibt.
Wo gibt es Zielkonflikte mit anderen Nutzern?
Das Konzept, dass Verkehrsflächen von Fussgängern und Fahrzeugen gemeinsam genutzt werden, wie z.B. in Begegnungszonen, oder auf gemeinsamen Fuss- und Velowegen, ist seit einigen Jahren schon ein Dauerbrenner. Politische Entscheide für den Ausbau sicherer und komfortabler Veloinfrastrukturen verstärken den Druck auf die Fussgängerflächen zusätzlich. Leider geht dabei oft vergessen, dass für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung solche Verkehrssituationen enormen Stress bedeuten und Konflikte unvermeidbar sind, da sie heranrollende Fahrzeuge nicht hören oder sehen! Hinzu kommt, dass mit der E-Mobilität die Velos schneller und die Fahrzeuge leiser werden. Wird dann auch noch der ganze Strassenraum baulich – ohne die Niveauunterschiede gestaltet, dann fallen die wichtigen Fahrbahnränder weg, an denen man sich mit dem weissen Stock orientieren kann. Aber – auch bei den Randsteinen selbst bestehen durchaus Zielkonflikte. Der Kompromiss zwischen der Ertastbarkeit für Menschen mit Sehbehinderung und der Befahrbarkeit mit einem Rollstuhl, Rollator oder Velo wurde 2003 und 2014 mit umfassenden Untersuchungen evaluiert und genau definiert. In der VSS Norm sind diverse Lösungen, auch solche für Veloauffahrten auf das Trottoir aufgeführt. Doch gibt es immer noch Widerstände seitens der Velolobby, diese Massnahmen anzuerkennen.
Was tut die Schweizer Fachstelle um der Hindernisfreiheit mehr Gewicht zu geben? (mehr Normen?)
Wir geben unser Fachwissen an regelmässigen Weiterbildungen weiter an die Berater der kantonalen Fachstellen, Planende und Behörden – und wir intervenieren bei Projekten im Rahmen der Bewilligungsverfahren. Im Auftrag der Sehbehindertenorganisationen bieten wir seit vier Jahren auch eine O+M-spezifische Beratung in Baufragen an, wenn es z.B. darum geht, ein Leitliniensystem zu entwerfen oder die Ertastbarkeit von Bodenbelägen zu beurteilen. So unterstützen wir die O+M Fachpersonen vor Ort und die regionalen Interessenvertreter*innen. Wichtig ist, dass die verschiedenen Stellen in den Kantonen gut vernetzt sind. Das Umsetzungskonzept zum sehbehindertengerechten Bauen wurde denn auch 2020 revidiert und neu aufgelegt. Es beschreibt einerseits die Aufgaben der verschiedenen Fachpersonen und andererseits die Interventionsmöglichkeiten im Planungsprozess.
Welche Erfolge der 25-jährigen Tätigkeit sind besonders hervorzuheben und wo besteht noch Handlungsbedarf?
Die Erfolge sind hoffentlich für Menschen mit Sehbehinderung im Alltag real spürbar. Deutlich sichtbar sind sie in den zahlreichen Publikationen und Normen, wie auch auf der Webseite der Fachstelle (www.hindernisfreie-architektur.ch). Hier können die wichtigsten Anforderungen nach Themen sortiert nachgelesen werden. Es gibt aber noch immer spannende Fragen bei den Grundlagen, die nicht zu Ende diskutiert wurden. Aktuell arbeiten wir an Vorgaben für die Beleuchtung und Kontraste im Lift, sowie an der Qualität von Reliefschriften damit diese gut ertastbar sind. Vor allem aber gilt es solang bei zahlreichen nationalen und internationalen Normprojekten mitzuwirken, bis «Design for all» als Selbstverständlichkeit und Qualität in der Architektur etabliert ist.